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Serie mit: Helferin Carmen
Armut, ein Wort das kaum jemanden kalt lässt. Es bedeutet im Grunde nichts anderes als mit kaum vorhandenen Mitteln seinen Lebensunterhalt zu bestreiten.
Es gibt kaum jemanden der nie mit dem Thema Armut in Kontakt kam. Sei dies im Familien- und/oder Verwandtenkreis, bei Freunden oder der Arbeit. Ein Thema welches bei den Betroffenen meist grosse Scham und Ängste auslöst. Andere wiederum, verschliessen gerne die Augen davor.
Wir sind überzeugt das beide Wege nicht die Richtigen sind, doch was könnte der Richtige sein?
Dieser Frage gingen wir in den letzten Jahren unserer Vereinstätigkeit, immer wieder auf den Grund und haben dazu auch verschiedene Personen befragt.
#1 Interview mit Helferin Carmen
Halli Hallo
Mein Name ist Carmen und ich bin 32 Jahre alt. Ich wohne mit meinem Mann (30) und meiner 1-jährigen Tochter in der Stadt Solothurn.
Was ist deine Motivation dich als ehrenamtliche Helferin zu engagieren?
Meine Motivation liegt in der persönlichen Erfahrung. Als ich 12 Jahre alt war, hat unser Vater uns verlassen mit einem riesen Berg von Schulden. Meine Mutter hatte somit kein Geld mehr um uns drei Kinder zu ernähren und zu verpflegen. Verwandte und Freunde hatten schon viel Geld meinem Vater (für uns... ) gegeben, somit hat meine Mutter sich nicht mehr getraut zu fragen. Die finanzielle Hilfe vom Amt kam sehr sehr spät, da der ganze Papierkram erst erledigt werden musste. Somit gab es für uns jeden Tag Kartoffeln und nur Kartoffeln, welche wir vom Feld holten, da der Bauer diese nicht verkaufen konnte. Ich fand das als Kind nicht so schlimm, aber meine Mutter hat sehr gelitten. Sie konnte uns keine Pausenbrote mitgeben, wir konnten auch nicht mit auf die Schulreise etc. Meine Mutter konnte irgendwann arbeiten, den Schuldenberg abbezahlen und wir hatten wieder genügend und abwechslungsreiches Essen. Nun ja, nicht jeder hat solches Glück, den Glück und Zuversicht benötigt man in solchen Situationen. Leider bin ich keine Glücksfee, aber ich habe die Hoffnung, dass ich mit meiner Hilfe ein bisschen Zuversicht schaffen kann und so jemanden ein bisschen glücklich mache. Wie einst eine schlaue Frau sagte «Nicht jeder von uns kann grosse Dinge tun, aber wir alle können kleine Dinge mit grosser Liebe tun». Das möchte ich beisteuern und so den Hilfesuchenden geben.
Was machst du als Helferin genau? Wie darf man sich die Arbeit eines ehrenamtlichen Helfers beim Siidefade vorstellen?
Als Helferin lese ich die Posts auf FB von den Hilfesuchenden. Ich wäge dann ab ob ich helfen kann. Wenn ich helfen kann oder das Gesuchte habe, poste ich meine Hilfe und kommuniziere danach privat mit den Hilfesuchenden. Auf FB wird oft rasch und gut geholfen. Die Rückmeldungen und Hilfsangebote berühren mich.
Ist jemand aus deinem Bekannten- oder Verwandtenkreis von Armut betroffen?
Im Moment ist mir niemand bekannt.
Warum ist es dir wichtig, dich im Bereich der Armut in der Schweiz zu engagieren?
Mein Mann und ich sind nicht wohlhabend, aber ich kann jede Woche einkaufen gehen ohne jeden Franken dreimal umzukehren. Ich kann jeden Tag zweimal frisch kochen und das ist ein Privileg also habe ich Glück! Wir werden satt und haben alles, was wir benötigen. Ich habe dafür nichts Besonderes getan! Deswegen stimmt es mich unheimlich traurig, wenn ich die Posts zb.von Müttern lese, welche sich kein Sack Reis kaufen können, wo sagen, der Kühlschrank sei leer und um Hilfe bitten müssen. Mein Herz wird schwer bei dem Gedanken, dass ich einfach in’s Migros gehen kann und einkaufen kann, auf was ich Lust habe. Ist das Fair? Ich finde nein…! Es liegt aber leider nicht in meiner Macht, alles fair zu verteilen. Wir leben in einem solch schönen Land. Uns geht es gut, sollte man meinen. Wir sind alle reich und haben alles was wir benötigen. Tja… die privilegierten Schweizer sind oft sehr blind. Bzw. sie wollen nicht hinsehen! Hinsehen und akzeptieren, dass es viele viele Menschen gibt, welche in der «guten» Schweiz zu wenig, wenn nicht sogar NICHTS haben. Es ist einfach ein Problem zu ignorieren – es könnte ja sein, das es verschwindet. Das schlimmste ist, das (Ver-)Urteilen. Wir kennen die Hintergründe der Hilfesuchenden nicht. Es ist so schnell verurteilt und einfacher alle in einen Topf zu werfen. Viele Bekannte sagen mir oft, «ich arbeite auch für mein Geld» - ja klar, aber du könntest mit ein bisschen (nächsten-)Liebe so viele Gutes tun. Für mich ist das purer Egoismus und eben die Augen verschliessen, sich nicht mit dem Problem auseinandersetzen. Vielleicht hat es der Hilfesuchenden Person einfach an Glück gefehlt. Glück einen Job zu haben, Glück um Gesund zu sein, Glück um nicht Einsam zu sein! Deswegen ist es mir wichtig, jemanden für einen kurzen Moment glücklich zu machen.
Seit wann bist du Helferin bei uns?
Ca. zwei Jahre
Warst du selbst mal von Armut betroffen?
Ja als Kind.
Gibt es ein Thema oder einen Gegenstand, welcher sehr gefragt ist bei den Hilfesuchenden?
Esswaren, Hygieneprodukte, Tiernahrung und Kleider.
Wie sind die Reaktionen der Hilfesuchenden, wenn du Hilfe leisten konntest?
Viel Dankbarkeit und grosse Scham.
Was denkst du, warum so viele Menschen in der Schweiz von Armut betroffen sind?
Niemand ist vor Armut geschützt. Es gibt keine Impfung gegen Armut! Viele vergessen oft, wie schnelle es gehen kann. Glück ist so vergänglich… Deswegen darf man nie (Ver-)Urteilen, sondern muss schätzen was man hat. Meine Mutter pflegte zu sagen, wenn wir ein 4-Blättriges Kleeblatt gefunden haben, «behalte das Glück nicht, verschenke es weiter, denn Glück ist das einzige, was sich verdoppelt, wenn man es teilt». Wie recht sie hat!
Was könnte in deinen Augen der Staat unternehme um Armut in der Schweiz zu mindern?
Ich finde es wichtig das...
- der Staat und die schweizer Bevölkerung sich langsam bewusst wird, dass die Armut in der Schweiz gross ist und nicht erst seit Corona plötzlich da ist! Das es jeden Treffen kann.
- Ämter die nötigen Mittel erhalten, um Gesuche schneller bearbeiten können und rascher umsetzen.
- Bauern ihre Ernte, welche nicht verkauft werden kann, spendet an Tischlein deck dich (oder so)und dafür eine Entschädigung vom Statt erhalten.
- Medien dieses Thema aufgreifen und berichten, wo welche Hilfe erhältlich ist (und nicht nur im Sommerloch darüber berichtet – weil es nichts besseres gibt).
- der Staat eine Kampagne startet um ebenfalls auf das Thema aufmerksam zu machen und auflistet, wer wo Hilfe bekommt.
Was ist dein Appell an unsere Bevölkerung wenn es darum geht, Andere für eine ehrenamtliche Arbeit oder eine solidarische Tätigkeit zu motivieren?
Wie einst eine schlaue Frau sagte «Nicht jeder von uns kann grosse Dinge tun, aber wir alle können kleine Dinge mit grosser Liebe tun».
Wir können mit wenigen Mitteln so grosse Freude und Erleichterung schaffen.
Zu wieviel Prozent hast du Angst oder Sorge, dass du selber einmal von Armut betroffen sein könntest?
Puh… es ist schwierig hier eine Zahl zu nennen. Klar jetzt, da wir eine Tochter haben, ist die Verantwortung gross geworden und somit auch die Sorgen. Aber gemeinsam statt einsam ist ein starker Slogan. Wir haben zwei grossartig Familien die uns den Rücken stärken, falls es nötig ist. Auch die Kenntnisse über den Verein lässt die Sorge minim erscheinen. Wenn ich mich festlegen müsste, würde ich 30% sagen.
Liebe Carmen, ein grosses Dankeschön für deine ausführlichen Antworten und deine Zeit, an unserer Umfrage teilzunehmen.
#gemeinsamstatteinsam
Du interessierst dich für das Thema Armut in der Schweiz?
Bist selbst Betroffen- und/oder kennst jemanden in deinem näheren Umfeld?
Erzähl uns deine Geschichte, wir sind gespannt auf deine Inputs.
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